Die Sprache Gottes

Die Stille
Der himmlische Vater sprach ein einziges Wort: seinen Sohn; und dieses Wort spricht er immer und in ewigem Schweigen. Nur im Schweigen kann es die Seele vernehmen.
Die Selbsthingabe fordert die göttliche Barmherzigkeit heraus; die Demut weitet die Aufnahmefähigkeit der Seele; die Stille gewährt dem Eingreifen Gottes die volle Wirksamkeit.

Notwendigkeit der Stille
Jede ernsthafte geistige Arbeit setzt Sammlung und Stille voraus. Wissenschaftler brauchen sie, um ihre Experimente vorzubereiten und die Bedingungen und Resultate sorgfältig zu notieren. Philosophen ziehen sich in die Einsamkeit zurück, um ihre Gedanken zu fassen und zu ordnen. Wenn schon Denker tunlichst die Stille aufsuchen, um alle Kräfte auf die geistige Arbeit zu konzentrieren, dann brauchen erst recht geistliche Menschen die Stille, um den göttlichen Freund aus ganzer Seele suchen zu können. Jesus sagt uns in der Bergpredigt, dass wir zum Beten in die Einsamkeit gehen sollen:
„Du aber geh in deine Kammer, wenn du betest, und schließ die Tür zu; dann bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist. Dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird es dir vergelten.“
Für das kontemplative Gebet, in dessen Radius wir uns jetzt bewegen, sind Stille und Einsamkeit ganz besonders nötig. In der Kontemplation erhellt die göttliche Weisheit nicht nur den Verstand, sondern die ganze Seele. Darum muss diese sich mit ihrem ganzen Sein auf die Weisheit ausrichten, sich sammeln und bis in den tiefsten Grund ruhig werden, um für die umwandelnden Strahlen aufnahmefähig zu sein.
Johannes vom Kreuz hat diese göttliche Bedingung auf eine knappe Formel gebracht, die im Herzen jedes kontemplativen Christen ein tiefes Echo findet. Er schreibt:
„Der himmlische Vater sprach ein einziges Wort: seinen Sohn; und dieses Wort spricht er immer und in ewigem Schweigen. Nur im Schweigen kann es die Seele vernehmen.“
„Gott sieht das Verborgene", sagt Jesus. Johannes vom Kreuz fügt hinzu: „Gott vollzieht sein dreifaltiges Tun im Schweigen. Das Schweigen ist ein Gesetz der höchsten innergöttlichen Vorgänge, nämlich der ewigen Zeugung des Wortes und der Hervorbringung der Gnade in der Zeit - Teilhabe am Göttlichen Wort.“
Dieses Gesetz überrascht uns. Es widerspricht gänzlich unserer Erfahrung von den Naturgesetzen. Hier auf Erden ist jede tiefgreifende Wandlung, jede äußere Veränderung mit Unruhe und Lärm verbunden. Ein Fluss z.B. erreicht den Ozean nur unter dem tosenden Wallen seiner Wasser.
In der Heiligsten Dreifaltigkeit geschieht die Zeugung des Ewigen Wortes und das Hervorgehen des Heiligen Geistes im Schweigen und im Frieden göttlicher Unwandelbarkeit: In einem ewigen Jetzt, das keine Abfolge kennt, breitet der Vater jenen leuchtenden Lichtglanz hin - sein vollkommenes Ebenbild, seinen Sohn -, hauchen der Vater und der Sohn in unendlichen Strömen der Liebe den Heiligen Geist, die dritte Person der Dreieinigkeit. Keinerlei Regung, keine Veränderung, nicht der geringste Hauch verraten der Welt und den geschärften Sinnen der Geschöpfe den Kreislauf des dreifaltigen Lebens, eines Lebens von grenzenloser Macht und Stärke.
Angesichts dieser Unbeweglichkeil und dieses ewigen Schweigens, in das sich Gottes geheimnisvolles, tiefinneres Leben hüllt, ruft der Psalmist aus: „Tu autem idem ipse es! - Du aber bist stets derselbe!" Die Erde ist ganz anders; sie ändert unaufhörlich ihr Angesicht.
Wir müssen auf die ewige Anschauung Gottes warten, um ganz in den Frieden der göttlichen Unwandelbarkeit einzugehen. Trotzdem sind wir schon jetzt dem Gesetz der göttlichen Stille unterworfen, weil wir gnadenhaft am Leben Gottes teilhaben. Denn im Schweigen, fügt Johannes vom Kreuz hinzu, kann man das göttliche Wort, die Gnade in uns, hören und aufnehmen.

(Aus: Marie-Eugene Grialou: "Ich will Gott schauen")